maë schwinghammer

poesie prosa und dramatik

person / person werden

 

vorneweg:

das fühlt sich alles wie ein umweg an

 

person

persönlich

werden

– im juni in bern

es hat dreißig grad

alle menschen sind draußen

alle paar meter springen

menschen in die aare

ich möchte schwimmen

fühle mich beobachtet

habe angst

vor dem strom

aus wasser

aus menschen

die da auf

und abströmen

den weg entlang

und kein meter platz

unbeobachtet zu sein

ich laufe eine stunde lang

die aare entlang

auf der suche nach einem platz

den perfekten platz

den idealen platz

den platz in mir

der dafür offen ist

mit anderen wäre es

etwas anderes

früher war ich alleine leicht

jetzt bin ich alleine schon schwer

ich gehe immer weiter

und weiter

bis das freibad kommt

es ist gratis

dort wäre es sicher wird mir gesagt

was mir nicht gesagt wird

was ich mir aber hätte denken können

dort sind noch mehr menschen

und gefühlt blicken sie mich alle an

bleibe keine sekunde stehen

alle sind in badekleidung unterwegs

ich will nicht oben ohne gehen

ich fühle mich nicht mehr wohl

ich gehe das ganze freibad entlang

dann drehe ich um

gehe das freibad entlang wieder zurück

und gehe dann verschwitzt einen steilen weg hinauf

um wieder auf das obere plateau der stadt zu gelangen

von dort aus

ziehe ich einen strich

bis zu meinem hotel

folge diesem strich

laufe die treppen hoch

und falle ins frischbezogene bett

ich wäre heute also damals gerne in der aare geschwommen

 

versuch der vorstellung

gestern also damals in der aare geschwommen zu sein

könnte ich

würde ich

glauben sie mir

ich würde

könnte ich

so würde ich

diesen

diesen schritt

zurück

diesen schritt

zurück gehen

wäre wieder

wie zuvor

ein anderes ich

ich nicht

ein anderes

nicht ich

es wäre leicht

es war auch vieles leichter

nur die existenz selbst schwer

aber der alltag leicht

ich habe mir

weniger gedanken gemacht

hatte weniger angst

habe angezogen was ich anziehen wollte

also was ich glaubte anziehen zu wollen

und es war okay

ich habe nicht bei jedem blick

anderer menschen zu schwitzen begonnen

nur bei jedem zweiten

ich war schwimmen

und schwomm einfach

ohne mir gedanken zu machen

was da schwimmt

wer da schwimmt

nur bin ich irgendwann

umgefallen

umgetreten

zur seite

bei seite getreten

stand da auf einmal

neben mir und sah mich an

sah mich an und sah mich nicht

das war nicht ich

das war ich

nur nicht

ich eben

 

unter badewannenschaum

ist alles vorstellbar

ist jeder körper

denkbar

ist jeder körper

dankbar

sein zu können

ohne dass etwas kratzt

kein verkaufsschild schürft mehr

unter kleidungsschichten

die hautschichten

die geschichten

eingeschrieben

eingekratzt

wie spuren von fingern

die begehren bedeuten

deuten mir

person zu werden

person zu werden

bedeutet

persönlich zu werden

es wird schnell persönlich

wenn es darum geht

wer person ist und wer nicht

vor allem wenn person neue wege begeht

von angestammter seite abweicht

bereits breitgetretene wanderwege verlässt

die frage ist

welche wege muss ich gehen um person zu werden?

wie generiere ich eine person

in einer gesellschaft

in der die behörden determinieren

wer person ist

nicht die personen selbst

wir werden benannt

wir werden dokumentiert (erst dann rechte erst bürger*in dann mensch)

wir werden verschlagwortet

wir sind notizen

abgestempelt

gebunden an namen

die an uns kleben

wie angeboren

wie geburtsnamen

wie totes gewebe

wie geschlechtseinträge

die mehr schlecht als gerecht passen

passen

passend sein

passend gemacht sein

passiert sein (wie spinat)

um zu passieren

flüssig zu werden

die passage zu durchschreiten

 

The glitch is a passage through which the body traverses toward liberation, a tear in the fabric of the digital.

– Glitch Feminism, Legacy Russell

wie ziehe ich mich für diesen anriss

wie ziehe ich mich für diesen anlass an

wenn dieser anlass

einen bestimmten gang erfordert

es gibt kein schlechtes wetter

es gibt nur eine schlechte ausrüstung

welche ausrüstung

welche schuhe

welche jacke

rüsten mich für verfahrenswege

für lebenswege

ich stolpere

und der glitch

beschreibt dieses stolpern

das unvermeidliche stolpern

das als mensch in die welt gesetzt

irgendwann beginnt

dann weniger wird

bis wir denken

das gehen gemeistert zu haben

bis wir merken

wir können nicht nur zu fuß stolpern

auch gedanklich

auch metaphorisch

auch hier

an diesem

abend

lässt es sich stolpern

aus der seite fallen

zur seite fallen

wenn der wegesrand

ein abgrund ist

ist der sturz abgrundtief

oft fallen wir flach

stützen uns ab

stützen uns

gegenseitig

unterstützen

auf den wegen

 

am anfang stand eine sammlung von wegen

die nicht alle beschritten wurden

abweg

amtsweg

atemweg

ausweg

bremsweg

fischweg

fluchtweg

funkweg

geheimweg

handelsweg

hinweg

holzweg

irrweg

karriereweg

kiesweg

kurzer weg

langer weg

lebensweg

leidensweg

rückweg

rundweg

scheideweg

schicksalsweg

schlichtweg

serpentinenweg

spazierweg

treppelweg

übertragungsweg

umweg

verfahrensweg

versandweg

waldwipfelweg

wasserweg

weitwanderweg

 

sie sehen:

eine ganze reihe an wegen

das internet hilft wege zu finden

dieser weg

soll ein öffentlicher sein

soll nach außen treten

eine bewegung von innen

nach außen beschreiben

ich allein kann sein wer ich will

ich zu bleiben

wenn ich unter leuten bin

das ist was ich will

das ist

was das lyrische ich will

eine poetik queerer wege

verbindungswege offenlegen

 

die queeren räume und die poetik dieser räume

zu möglichkeitsorten machen

 

möglichkeitsort rax 1998

der versuch einer wanderung

ohne meine mama in den arm zu beißen

weil ich sonst später einen roman schreiben muss

nur ein bild von diesem tag

ich kariertes baumwollhemd

wanderweg

spazierweg

rundweg

kiesweg

zwei hände die mich halten

zwei eltern die mich halten

und keine tränen im gesicht

auch nicht in dem meiner mama

nur ein wenig schnee

weiter oben

dort wo wir nicht sind

sonne glitzert darin

augen blinzeln

ein abzug

abzüglich der erinnerung

 

frage meine mama nach der wanderung

nach der sache mit dem biss

und verlasse den möglichkeitsort

tränen mischen sich

ins bild

ins gesicht

in meines

in das meiner mama

mein papa der beruhigt

der tröstet

ich habe nicht geweint

wegen dem biss

sagt meine mama

es hat wehgetan

mein kind nicht zu verstehen

sagt sie

und ich verstehe die sache mit dem verstehen

verstehe dass es verständnis ist

wonach ich suche

 

ich habe keine worte

ich habe alle worte

sie fallen mir nicht zu

sind mühsam erarbeitet

ich beginne ›schwul‹ zu lieben

ich stelle mich quer zur norm und werde ›queer‹

ich starte als ›arbeiter*innenkind‹

werde zunehmend ›bürgerlich‹

ich ›gehe in den park‹

und meine mama versteht mich wenn ich ihr das sage

ich habe als kind eine ›wahrnehmungsstörung‹

werde erst ›integrationsschüler*in‹

dann zum ›computerköpfchen‹

mache jahre später eine diagnostik

und werde ›autist*in‹

bin es immer schon

ich bin kein mann der vielen worte

ich bin kein mann

ich bin ›trans‹

ich bin das dazwischen

das darüber hinaus

 

queere wege sind unbeschildert

sie haben keine markierung

keine wegweiser

keine zeitangaben

und ich verspüre lust

neue wege zu erwandern

und mit straßenkreiden

male ich dann regenbögen

auf baumrinden