maë schwinghammer

poesie prosa und dramatik

OEFFNE DIE AUSSENKLAPPEN

kurzprosa

“Alex, hörst du mich?”

“Ja.”

“Sind wir mit dem Internet verbunden?”

“Ja. Die 8G-Verbindung läuft stabil bei einer durchschnittlichen Datenrate von 6 Terabit pro Sekunde.”

“So genau wollte ich es gar nicht wissen.”

“Es tut mir leid.”

“Schon gut.”

Chris zwinkerte und fünf von fünf Strichen leuchteten wenige Zentimeter vor Chris’ Augen auf. Das war doch ungewöhnlich.

“Was läuft heute auf Flimmr?”

“To Die For. Witness. Tonya. Und eine Doku über den Amazonas.”

“Wiederholungen?”

“Ja.”

“Gibt es von einer meiner Serien eine neue Staffel?”

“Nein.”

“Gibt es eine neue Serie?”

“Nein, ich konnte keine neue Serie finden, die zu deinem Geschmack passt.”

“Suche ohne Präferenzen”

“Auch nicht.”

Das konnte doch nicht sein, das lag bestimmt am Internet. Neuroelektronische Netze, dachte sich Chris, die waren doch letztendlich genauso fehleranfällig wie das menschliche Gehirn. Früher gab es wenigstens noch Glasfaser, da wusste man, wo das Kabel rauskam und wo das Kabel reingehörte. Da gab es noch Büchsen, gegen die man treten konnte und den Mietbeirat, der mit Tickets eingedeckt werden konnte. Aber den gab es ja auch nicht mehr.

Vielleicht hatten ja andere Leute auch Probleme mit dem Zugang, Chris’ Leute würden sich sicher auch beschweren.

OEFFNE MEINE BUBBLE.

In der Luft vor Chris’ Augen erschienen eine ganze Reihe unterschiedlicher Blogs und andere sozialen Medien. Da war ein Foto von Lee mit Lees Eltern, das war aber auch schon ein paar Wochen alt. Ein paar Metames, die sich über die neue Regierungsversion lustig machten, Metames die sich über andere Metames lustig machten, aber auch die kannte Chris alle schon.

SORTIERE NACH DATUM AUFSTEIGEND.

Die leuchtenden Felder verschoben und formierten sich im Bruchteil einer Sekunde zu einer chronologisch sortierten Säule vor Chris’ Augen. Das oberste Feld des Holodesks zeigte einen Short von gestern, es war ein kurzer Filmausschnitt, den eine Person mit quietschendverzerrter Stimme übersprochen hatte. Auf den Short folgten mehrere Emotions. Zuerst ein Tag am Strand von Emil, der sich aber nur als lauwarmes Kribbeln auf der Stirn bemerkbar machte. Chris konnte sich gar nicht mehr erinnern, wann eine Sommer-Emotion das letzte Mal so etwas wie einen Sonnenbrand hervorgerufen hatte. Die nächste Emotion war Familie, auch schon ein paar Tage alt. Sie fühlte sich wie eine bereits gelöste Umarmung an, von der für zählbare Sekunde ein blasser Abdruck auf der Haut zurückblieb. Das war doch alles nichts, dachte sich Chris, den ganzen Tag nur alte Serien schauen und Emotionen aufwärmen?

EIN PODCAST ZU SELF-CARE IN ZEITEN DER POST-AUTOMATION.

Schon kurz darauf kam über die Lautsprecher eine Stimme.

“Alex bitte erhöhe die Lautstärke und schalte die Lichter aus.”

“Gerne.”

Jetzt konnte sich Chris ganz auf den Podcast konzentrieren, aber die Stimme klang so gewollt nicht-monoton, dass sie Chris bereits nach wenigen Sätzen auf die Nerven ging. Alles, was im Podcast vorkam, Achtsamkeit für die eigenen Gefühle beim Empfangen von fremden Emotionen, Strukturierung des Alltags ohne Arbeit, all das ergab Sinn, war wissenschaftlich von Datenbergen untermauert, individuell auf die Bedürfnisse von Chris zugeschnitten und dennoch wollte es nichts helfen. Wie soll diese Stimme mir etwas von Self-Care erzählen, wenn sie noch nicht einmal selbst ist, dachte sich Chris.

Es gab kein Überangebot, es gab das Allangebot, Chris brauchte nur denken UTOPISCHE KURZGESCHICHTE DIE TRAUER AUSLOEST und genau das würde Chris erhalten. Eine Kurzgeschichte, die Themen aus Chris’ Vergangenheit aufgriff, sie in eine Zukunft übertrug, die ebenso schön wie unbegreiflich war, dass sie Chris zu Tränen rührte. Aber es war kein Salz in diesen Tränen, das war es, was Chris am meisten zu schaffen machte.

LOESCHE DEN PODCAST AUS MIR.

Die Stimme verhallte und Chris war, von Alex abgesehen, wieder alleine in der Wohnung. Chris spürte einen Druck im Brustkorb, der sich von dort aus in konzentrischen Kreisen im Körper breitmachte. Die Schläfen in Chris’ Gesicht brannten und Chris fühlte Wut. Aber dieses Mal war es echte Wut, kein Durchschlag, kein Abziehbild aus der Vergangenheit, es war gegenwärtige, unmittelbare Wut. Und die wollte immer schon geteilt sein.

OEFFNE DAS CREATION BOARD.

Das Creation Board hatte Chris schon lange nicht mehr verwendet. Jetzt stellte sich nur noch die Frage, in welche Form Chris hens Wut gießen wollte. Eine Emotion war naheliegend, aber diese Wut würde doch kein Mensch mehr nachempfinden können, dachte sich Chris. Worte, die waren doch immer schon das Mittel erster Wahl und eine antiquierte Form wie das Gedicht müsste es sein. Chris blickte gar nicht herab, als sich dort eine Tastatur aus blauem Licht materialisierte. Immer wieder senkte Chris die Finger, aber jedes Mal nur soweit, als das der Drucksensor der Tastatur nicht ausgelöst wurde.

WARUM ETWAS TEILEN, WENN DIE ANDEREN AUCH NICHTS TEILEN. WIE KOMME ICH DAZU FÜR DIE UNTERHALTUNG ALLER VERANTWORTLICH ZU SEIN. CREATION BOARD BEENDEN. TASTATUR BEENDEN. ALLES BEENDEN.

Es reichte Chris. Hen lief zum einzigen Regal der Wohnung und kramte dort einige Sachen aus einer Box, die hen vor vielen Jahren aus einem Sperrmüll-Vaporisator gedumpstert hatte. Chris packte eine Dose in eine Umhängetasche, die ebenfalls in der Box gelegen hatte, und ließ den Rest am Boden verstreut liegen. Dann trat Chris an die Glasfront der Wohnungskapsel.

OEFFNE DIE AUSSENKLAPPEN.

Chris hielt die Augen für einen kurzen Moment geschlossen, das half gegen die Schmerzen. Das, was sich früher Tageslicht nannte, flimmerte durch die Smogwolken hindurch und fiel als diffuses Grau auf die Netzhaut von Chris. Es war so, wie es sich Chris gedachte hatte. Kein Mensch befand sich mehr im Aussen und abgesehen von den Lieferdrohnen rührte sich nichts. Chris senkte die Wohnungskapsel und sprang schließlich knapp über Bodenhöhe heraus. Ohne Umwege lief Chris zur Serverzentrale, weichte dabei allerlei Lieferdrohnen aus, die mittlerweile alle Straßen und Gehwege in Beschlag nahmen.

Als Chris nur noch wenige Schritte zurückzulegen hatte, kramte hen die Dose aus der Umhängetasche und begann sie kräftig zu schütteln. Es blieb nur wenig Zeit und Chris fing sofort an Wörter an die Mauer der Zentrale zu sprühen. Als Chris fertig war, trat hen einige Schritte zurück, öffnete das Creation Board und teilte ein Foto, teilte ein Foto der Wörter an der Mauer.

WORIN LIEGT DER SINN, ETWAS ZU TUN, WENN KEIN MENSCH MEHR ZUSIEHT.

WORIN LIEGT DER SINN, ZU SEHEN, WENN KEIN MENSCH MEHR ETWAS TUT.

Hinter Chris war ein lautes Surren zu vernehmen. Es waren Drohnen, aber keine Lieferdrohnen, da war sich Chris sicher.

FOTO HOCHLADEN. SCHLIESSE CREATION BOARD. SCHLIESSE KAMERA. SCHLIESSE DIE AUGEN.

KLANGFESTIVAL KLANGZINE

der text wurde im KLANGFOLGER ZINE 2020 in der ausgabe zum thema „ENT_TÄUSCHUNG“ veröffentlicht. publiziert wurde das magazin im rahmen des KLANGFESTIVALS 2020, welches erstmals digital in der remote edition stattfand. das zine und eine cd-box vom festival sind online erhältlich.

weitere beiträge im magazin finden sich unter anderem von: Abby Lee Tee, Angelika Wischermann, Anja Zorg und Elizaveta Oliinyk, Christin Figl, David Hoffmann, Florian Nitsch, Florine Mougel, Gregor Eistert, Jakob Falkinger, Johannes Oberhuber, Julien Segarra, Kerstin Putz, Kollektiv Wirr (Alexandra Pisslinger, Kerstin Brandl und Sarah Rachinger), Lisa Braid, Lydia Waldhör, Magdalena Stammler, Marianne Strauhs, Ruth Größwang, Silke Müller, Thomas Auer, Veza Czyn. 

vier texte aus dem zine gibt es auch als video (in der linken spalte) anzuhören.